Luciana konnte gar nicht sagen, wie lange sie schon auf dieser Lichtung, angelehnt an dem alten Baum saß. Sie konnte noch nicht einmal sagen, ob ihre Abwesenheit im Paradise schon bemerkt wurde und die ersten Leute… oder irgendwer sie anfing zu suchen. Zumindest aus Erfahrung konnte sie sagen, dass sie eigentlich einen kleinen Puffer hatte, was die Zeit betraf, und nicht direkt nach fünf Minuten schon einer durch die Kolonie rannte und alles auf den Kopf stellte, um es mal etwas zu übertreiben. In den meisten Fällen war es sowieso ihrem Bruder als erstes aufgefallen. Leider. Aber sie hatte es auch des öfteren schon geschafft, unbemerkt wieder durch das Loch in den Mauern zurück ins Innere zu schlüpfen. Zu ihrer Verteidigung: aber genau diese Ausflüge waren die letzten Wochen, auch Monate deutlich weniger geworden. Seitdem sie mit Elric genau dieses Gespräch hatte, nachdem beide zuvor von einer Horde Beißer außerhalb getrennt worden waren und beide um das Leben des jeweils anderen gefürchtet hatten… Aber jetzt, so nahe an dem ersten Todestag ihrer geliebten Großmutter, hatte sie das Gefühl, sie könnte nicht anders. Es kam der Blondhaarigen immer noch wie gestern vor, als sie die Schreie der Mitglieder gehört hatte und zusehen musste, wie ihre Nana sich für sie… für ihre Enkelin, mit der sie all die Jahre unterwegs war, die schon früh eine Vollwaisin gewesen war und die sie mit größter Liebe aufgezogen hatte, am Ende geopfert hatte. Es waren schon so viele geliebte Personen gewesen, die die junge Frau in ihrem Leben verloren hatte, und es wurde nicht besser, eher wurde es immer schlimmer. Das war so etwas, was einfach nicht spurlos an ihr vorbei ging. Auch wenn Lu genau das versuchte zu verbergen und sich die ganze Zeit über eine ganz persönliche Mauer um sich aufgebaut hatte. Nur keine Schwäche zeigen, das war ihr Ziel gewesen. Allerdings war es schon so weit gekommen, dass sie ernsthaft überlegt hatte es zu… Nein, sie sprach es noch nicht einmal in Gedanken aus, aber genau das sollte nie wieder kommen. Nie wieder solche Gedanken. Sie hatte Elric, ihren Bruder… und er hatte sie.
Aber dafür war sie nicht hier, um in Gedanken völlig Trübsal zu blasen. Sie war in dieser komplett kitschigen, fast schon klischeehaften, märchenhaften Umgebung, um genau das hinter sich zu lassen und fast schon für einen Moment dieses Etwas zu vergessen. Etwas, was ihr jedoch bislang nicht gelingen wollte. Der Bleistift schwebte schon lange über dem cremefarbenen Blatt, hatte einen dunklen Punkt hinterlassen… und mehr nicht. Mal wieder. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich selbst blockierte. Ein leiser Seufzer überkam ihre Lippen und die junge Mikaelson schloss für einen Moment die Augen, lauschte dem Blätterrascheln, den Vögeln… und… Automatisch hielt sie für ein paar Sekunden den Atem an und öffnete ruckartig die Augen. Da war noch etwas oder viel mehr jemand? Wurde sie beobachtet? Nein, da war sie sich eigentlich schon sehr sicher. War ihr doch irgendwer aus der Kolonie gefolgt? Es war definitiv kein Beißer. Dieser würde sich nicht zurückhalten und analysieren. Er würde stumpf und strohdoof einfach durch die Gegend humpeln.
Ihre Haltung veränderte sich und sie merkte, wie ihr Körper sich anspannte. Irgendwie beschlich sie ein ganz mieses Gefühl, was sie noch nicht einmal richtig begründen konnte. Dass sie damit recht behalten wird, das würde sie erst später merken.
Langsam ließ sie ihr Buch in die kleine Tasche gleiten, die sie immer mit sich herum trug. Und siehe da… Ihre Augen weiteten sich, als wenige Meter von ihr entfernt ein fremdes Gesicht auf die Lichtung trat. Es war ein hochgewachsener Mann, der nicht gerade sonderlich… typisch aussah. Augenscheinlich hatte er Schmerzen, so wie er sich auf den dicken Ast abstütze. Lu hob fragend die Augenbrauen, verengte ihre Augen und musterte diese Gestalt argwöhnisch. Sie war noch nie eine Person gewesen, die Fremden offen um den Hals fiel. So eine war sie noch nie gewesen und wird es auch nie sein. Viel lieber blieb sie auf Abstand, was sie auch jetzt signalisiere. Die Blondhaarige ging vorsichtig in die Hocke, stellte sich schließlich hin und wich etwas zur Seite, um so auch deutlich zu machen, dass er nicht näher kommen sollte. Das alles kam ihr irgendwie… komisch vor. Ohne dass der Mann aufsah, fiel er schließlich nach vorne und landete unsanft auf dem kahlen Waldboden. Er konnte sie doch unmöglich übersehen haben… oder?
„Kann man dir weiterhelfen?“, durchbrach Luciana schließlich die herrschende Stille. Allerdings blieb sie immer noch auf Entfernung und trat keinen Schritt näher an ihn heran. So ein Klotz würde sie sowieso nicht alleine hochbekommen, wenn er sich nicht mehr bewegen könnte. Immerhin war der Unbekannte mehr als einen Kopf größer als sie.
@Malakai Watts