„Mary had a little lamb,
Its fleece was white as snow.
And everywhere that Mary went
The lamb was sure to go“
Die sanfte Stimme seiner Mutter umgab ihn und ihre Hand streichelte durch seine kurzen Haare. Sie saß an seinem schmalen Bett. Es roch nach verbranntem Essen, weil sie wieder den Topf auf dem Herd vergessen hatte. Das Veilchen an ihrem Auge zeigte, dass sein Vater sie bereits dafür gerügt hatte. Aber sie lächelte dennoch und er merkte nicht, wie ihre Hand und ihre Unterlippe leicht zitterte. Ihr Lächeln war tapfer und er schaute zu ihr hoch, hielt ihren Blick fest, entschlossen den Schlaf nicht gewinnen zu lassen. Aber er verlor den Kampf. Seine Lider wurden schwerer und er driftete ab. Die Stimme seiner Mutter wurde leiser, bis er eingeschlafen war und sie verstummte.
Es war tiefe Nacht – zumindest für ihn – als er von einem Schrei und lauten Klirren geweckt wurde. Er warf die Bettdecke von sich, zögerte aber. Er horchte, lauschte in die Stille und zuckte zusammen, als er ein Poltern hörte. Seine Eltern stritten wieder. Sie stritten oft. Sein Vater war launisch, vor allem, wenn er aus der braunen Flasche getrunken hatte.
„Bleib liegen, Toni“, flüsterte sein älterer Bruder, der bereits aufgestanden war und sich zur Tür schlich. Sie teilten sich das Zimmer in dem Trailer. Es war eng, aber sie kannten es nicht anders. Aber er hörte nicht. Still beobachtete er, wie sein Bruder die Tür öffnete.
„Salva“, wisperte er, aber auch sein Bruder hörte nicht. Salva verließ das Zimmer, während er einen Moment wie erstarrt vor seinem Bett stand. Seine nackten Füße waren eiskalt. Er setzte sich langsam in Bewegung. Durch die geöffnete Tür, war der Streit ihrer Eltern nun lauter zu hören. Er verzog das Gesicht. Er mochte es nicht, wenn sein Vater so schimpfte und schrie. Er mochte es nicht, wenn seine Mutter weinte und flehte. Sich gegen die Wand des Trailers drückend, schob er sich weiter in den Raum vor. Sein Bruder stand neben der Küchenzeile und beobachtete seine Eltern. Erst nach einem kurzen Moment merkte er, dass auch Salva etwas sagte. Salva schrie. Er mochte das nicht, wenn Salva sich einmischte. Dann sprang Salva ihrem Vater auf den Rücken, versuchte ihn von ihrer Mutter wegzubringen. Er schaute nur zu. Verängstigt und erstarrt. Salva wurde abgeschüttelt und knallte auf den Boden. Er zuckte dabei zusammen. Hinter seinem Vater lag nun seine Mutter. Sie rührte sich kaum noch. Aber ihr Blick war auf ihn gerichtet. Er schaute sie an. Sie streckte die Hand nach ihm aus und er setzte sich in Bewegung. Neben ihr ging er in die Hocke und griff nach ihrer Hand.
„Mein kleiner Toni“, sagte sie leise und lächelte ihn an. Ihr Lächeln war verstörend. Ihre Zähne waren blutig. Er konnte erkennen, dass ihr ein Zahn fehlte. Die rechte Seite ihres Gesichts war geschwollen und er konnte das rechte Auge nicht mehr erkennen. Ihre Nase war gebrochen. Sie legte seine kleine Hand an ihre blutige Wange und auch wenn ihr Gesicht entstellt war, war ihr Blick liebevoll. Sein Schlafanzug saugte sich mit dem Blut voll. Seine Füße fühlten sich in dem Blut warm an. Er lächelte.
„Mary had a little lamb,
Its fleece was white as snow.
And everywhere that Mary went
The lamb was sure to go
She brought her lamb to school one day;
The kids let out loud jeers. …“Seine Mutter starb drei Tage später an den Folgen der Verletzungen. Sein Vater hatte sich geweigert sie zu einem Arzt zu bringen. Die Beerdigung war nur eine Abfolge von Bildern in seinen Erinnerungen. Es hatte geregnet an dem Tag. Er hatte geweint. Er hatte ärger bekommen, weil er geweint hatte und schließlich auch eine Ohrfeige. Er sollte sich zusammenreißen. Er wollte sich zusammenreißen. Für seine Mama. Sie sollte ihn nicht weinen sehen. Salva weinte nicht. Er sollte versuchen so zu sein wie er.
Er war schon vorher nicht gut in der Schule gewesen. Er konnte sich nicht gut konzentrieren und ließ sich schnell ablenken. Er versagte noch mehr und musste die Klasse wiederholen. Er sah mit an, wie sein Bruder Salva sich einer Gang anschloss und immer weniger zu Hause war. Er ließ ihn allein mit ihrem Vater, der kaum noch er selbst war. Ständig betrunken und high. Er sah die Pillen auf dem Tisch, die er einwarf und das weiße Pulver. Dahin floss auch das wenige Geld, was ihr Vater in einer Fabrik am Fließband verdiente. Salva brachte manchmal Essen nach Hause und versuchte vergebens Ordnung zu machen. Es half nicht.
Mit fünfzehn Jahren schloss er sich ebenfalls der Gang an. Er war noch jung, aber entschlossen. Er wehrte sich, begann seinem Vater die Stirn zu bieten. Mit sechzehn verprügelte er ihn das erste Mal. Seitdem hatte er Ruhe vor ihm.
„The children took her lamb away
And Mary choked on tears.
Mary had a little lamb,
Its fleece was red with blood.“Antonio, von allen nur Toni genannt, verließ die Highschool mit einem schlechten Schulabschluss. Die Lehrer waren froh, ihn los zu sein. Als Unruhestifter bekannt, war er vom Abschlussball ausgeladen, was ihn aber nicht davon abhielt dennoch hinzugehen. Mit seiner Gang als Begleitung. Sie mischten den Abschlussball auf und flohen anschließend vor der Polizei. Er war gerade siebzehn Jahre alt geworden und es war ein sonniger Tag gewesen, als Toni den Trailer – sein Zuhause – betrat und seinen Bruder dabei erwischte, wie er seine Sporttasche packte. Schweigend hatte Toni ihn beobachtet und Salva war zusammengezuckt, als er sich umgedreht und ihn erblickt hatte.
„Ich muss weg, Toni“, murmelte Salva und seine Bewegungen waren hastig und fahrig. War das Angst in seinem Gesicht? Blut auf seinem T-Shirt? Toni schwieg weiterhin und beobachtete. Neben ihm schnarchte jemand auf der Couch. Ihr Vater. Toni ignorierte ihn, nahm ihn nicht mehr wahr.
„Ich gehe nach Kalifornien“, sagte Salva, als er mit der gepackten Tasche vor Toni stand. „Ich muss hier weg. Ich habe Scheiße gebaut, Toni“, erklärte er und legte seinem kleinen Bruder die Hand auf die Schulter. „Begleite mich.“ Es war eine Bitte. Ein Ausweg aus der Situation, in der er sich befand. Er hatte keine Zukunftsperspektive. Was sollte aus ihm werden? Diese Frage hatte man ihm schon oft gestellt und er fand keine Antwort. Tonis Uropa war damals aus Italien nach Amerika gekommen, um seiner Familie ein besseres Leben bieten zu können. Sie hatten eine kleine Näherei und ein Geschäft, in dem sie Stoffe, Wolle und Knöpfe verkauft hatten. Das Geschäft hatte floriert. Bis Tonis Vater das Geschäft übernommen hatte, das komplette Geld verspielt und währenddessen immer mehr getrunken hatte. Bis sie schließlich alles verkaufen mussten, sogar das kleine Haus und in eine Trailerparksiedlung zogen. Dort war Toni geboren. Er kannte nichts anderes. Es war verständlich, dass Salva etwas anderes von seinem Leben wollte.
„Wir sehen uns“, sagte Toni nur und trat einen Schritt zur Seite, um Salva vorbeizulassen. Der zog ihn in eine feste Umarmung, die Toni nach kurzem Zögern erwiderte. Es sollte die letzte Umarmung sein.
In der folgenden Nacht wurde Toni zu seinem ersten Einbruch mitgenommen. Von da an häuften sich die kriminellen Aktivitäten. Einbruch, Diebstahl, Körperverletzung. Er dealte mit Drogen und nahm selbst welche. Es gab niemanden, der mehr auf ihn aufpasste und so lernte Toni schnell sich selbst zu verteidigen.
„She took its little body home
And swore she'd hurt them good.
Mary knew that lambsblood called
Things ancient, hidden, and deep.“Den ersten vergisst man nie. Zumindest tat Antonio das nicht. Der erste Beißer, dem er begegnet war, kam wankend über den Weg im Trailerpark auf ihn zu. Er hatte bereits von der Seuche gehört. Die Leute drehten durch. Die Supermärkte waren leergekauft. Die Regale waren leer und es erfolgten keine Lieferungen mehr, damit sie wieder aufgefüllt werden konnte. Der letzte LKW, der den Supermarkt in ihrer Siedlung angefahren hatte, war überfallen worden. Antonio war bei dem Überfall dabei gewesen und hatte geholfen die haltbaren Lebensmittel wegzubringen. Es wurden um Benzin und Diesel gekämpft. Die Preise stiegen wegen der hohen Nachfrage in die Höhe. Die Situation war angespannt.
In der Trailerparksiedlung hatten sie angefangen einen Zaun zu ziehen. Sie parkten die Trailer um, um den Bereich zu schützen. Sie verbarrikadierten sich.
Der Beißer stolperte geifernd und zischend auf Antonio zu. Etwas warmes, flauschiges streifte seine Beine. Er senkte den Blick und hob die Streunerkatze hoch. Sie war öfter hier und besuchte ihn. Sanft streichelte er sie, während sie nun zu zweit dem Beißer entgegen schauten.
„Fuck, Toni!“, rief sein Vater von seiner rechten aus, aber Antonio ignorierte ihn. Er war fasziniert von dem Beißer. Von so nah hatte er noch keinen gesehen. Der Beißer schien nun begieriger zu werden, je näher er kam und er streckte eine tote Hand nach ihm aus. Die Katze auf seinem Arm blieb ruhig und schnurrte, während er sie streichelte. Als der Beißer ihn erreichte, trat Antonio einen Schritt zur Seite, dann noch einen. Er lachte, als der Beißer ihn verfolgte. Die Krallen der Katze bohrten sich in seinen Unterarm. Antonio trat dem Beißer in den Bauch und er ging zu Boden. Schmunzelnd neigte er den Kopf und beobachtete ihn. Er glaubte, dass der Beißer ein Mann gewesen war. Woran er das aus machte, wusste er selbst nicht.
„Toni! Bring das Drecksvieh um!“, rief sein Vater. Er lallte. Er war betrunken. Wie immer. Aber er klang auch unsicher und verängstigt. Sein Vater hatte Angst. Wie immer. Er verbarrikadierte sich, seit die Beißer auf den Straßen waren, kam nicht mehr raus und wurde nervös, weil sein Vorrat an Alkohol zur Neige ging. Die Vorräte für den Trailerpark lagerten sie bei Hero und die Auflagen, wer was bekam, waren streng.
Der Beißer kam wieder auf die Beine. Gleichzeitig näherte sein Vater sich. Er versuchte ihn am Arm wegzuziehen, aber Antonio rührte sich nicht. Er beobachtete immer noch.
„Toni“, murmelte sein Vater nervös.
„Warum hast du Mom damals umgebracht?“, fragte Antonio ruhig. Sein Vater schwieg. Vermutlich konnte er ihn nicht gehört. „Jetzt könnte sie wieder gekommen“, redete er weiter. Seine Stimme klang abwesend.
„Ich habe deine Mutter nicht umgebracht“, knurrte sein Vater. Eine Lüge. Antonio seufzte.
„Hmm“, murmelte er im leisen singsang. Dann ließ er die Katze mit einem Mal los. Sie fiel auf ihre Beine und flitzte erschrocken davon. Gleichzeitig packte Antonio die Kehle seines Vaters. „Wir sehen uns, Dad“, sagte er lächelnd und drückte ihn in die ausgestreckten Arme des Beißers.
„As Mary painted signs of old,
Never did she weep.
Mary had a little lamb;
It made her something scary.“
Ab 2009Die Situation spitzte sich weiter zu, aber Antonio ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Ihre Barrikaden hielten nicht. Es dauerte nur drei Monate, bis sie fliehen mussten, weil das Militär noch versuchte irgendwie Ordnung zu schaffen. Mit ein paar Leuten seiner Gang floh Antonio und zog weiter, ohne zurück zu schauen.
Die kleine Gruppe schlug sich durch. Sie plünderten andere Gruppen aus und nahmen sich, was sie wollten.
2011 hörten sie von einer Gruppe, vor der man sich besser in Acht nehmen sollte. Man munkelte, dass sie auf dem Weg nach New Mexiko waren, dorthin also, wo Toni sich befand. Seine Gruppe war sich unsicher, ob sie nicht verschwinden sollte. Diese Gruppe – die Wicked – töteten ohne zu zögern. Aber Toni wusste, dass er zu ihnen wollte. Er ein festes Ziel vor Augen und ging dort hin, wo die Leute sie vor warnten.
Es war nicht einfach ein Teil dieser Gruppe zu werden, aber Antonio war ehrgeizig und krank genug es zu versuchen. Seinen Freund, der dumm genug war, ihn zu begleiten, hatten die Wicked sofort umgebracht.
Toni war bewusst, dass er sterben würde, würde er die Prüfung nicht schaffen, aber darüber dachte er nicht nach. Der Tod machte ihm keine Angst.
Antonio wurde im Haus Zorn aufgenommen. Zunächst arbeitete Antonio in der Benzinversorgung. Da er schon früh gelernt hatte Autos zu knacken und Benzin und Diesel aus den Tanks zu klauen, verbesserte er seine Fähigkeiten schnell. Die Ware verteidigte er.
Neben seiner Aufgabe der Benzinversorgung, lernte Antonio auf das Tätowieren. Er hatte schon als Kind gerne und viel gezeichnet, da er den langweiligen Unterricht wohl nie überlebt hätte. Seine Hauptaufgabe vernachlässigte er aber nicht.
Antonio wechselte alle paar Jahre seinen Aufgabenbereich und arbeitete ab dem Jahr 2015 als Späher und Entführer. Seine Gruppe war es, die die Gruppe von @Mara Campbell überfiel und sie als überlebende zu den Wicked brachte. Dass sie bald seine neue Fürstin werden würde, hätte Antonio damals nicht gedacht. Antonio ist einer der wenigen Vertrauten von Mara geworden.
„What makes the lamb love Mary so?"
The eager children cry;
"Why, Mary loves the lamb, you know,"
The teacher did reply“